Flutlich #12 Nachbericht: “Taksim ist überall!”

Çarsi Logo der Ultragruppierung
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Beşiktaş, Proteste und Fußball: Die Ultragruppe Çarşı

Am Mittwoch, den 14. 05., waren im Fanport am Preußenstadion drei Gäste aus München zu Gast. Alle drei sind Fans von Besiktas Istanbul und Mitglied in der größten Ultragruppe des Vereins: „Çarşı“. Carsi hat auch in Deutschland einige Ableger und die drei Gäste gehören zur „Carsi München“. Was die circa 15 Zuhörer (es hätten deutlich mehr sein müssen) an dem Abend zu hören bekamen, war beeindruckend und unglaublich interessant.

Ich wusste sehr wenig über die Fans von Besiktas Istanbul. Eigentlich fast gar nichts. Das Einzige, an das ich mich erinnern konnte, war, dass die Fans von Besiktas am lautesten sein können. Vor einigen Jahren stellten sie in einem Spiel in der Champions-League gegen Liverpool den Lautstärkerekord im heimischen Inönü-Stadion auf. 132 Dezibel wurden damals gemessen. Von diesem Ereignis erzählten uns die drei mit einem stolzen Lächeln auf dem Gesicht. Selbst Steven Gerrard habe die Ultragruppe Carsi in seiner Biografie erwähnt, als den einzigen zwölften Mann, der wirklich ein zwölfter Mann war. Ansonsten war mein Wissen beschränkt. Doch ich sollte an diesem Abend einiges erfahren.

Was ist Çarşı?

Çarsi Logo der Ultragruppierung

Çarsi Logo der Ultragruppierung

Carsi ist mehr als eine Ultragruppe. Neben lautstarkem Support im Stadion zeichnen sie sich auch stark über ihre soziale Verantwortung aus. Als ein Erdbeben in den kurdischen Gebieten massive Verwüstungen auslöste, zog sich die ganze Kurve aus, um zu zeigen, dass sie aus Solidarität mitfrieren. Sie organisierten Kleidersammlungen und verschickte sie zu den Betroffenen. In Besiktas sind Carsi-Leute auch an verschiedenen sozialen Projekten beteiligt, für obdachlose Kinder, für Behinderte und für die Älteren und Armen. Für Carsi ist der Ort des Stadions mehr als nur eine Plattform zum Singen und Anfeuern der Mannschaft. Es dreht sich bei Carsi viel um Politik. Der Sport repräsentiert alle gesellschaftlichen Schichten, von arm bis reich. Der Sport verbindet Menschen. Im Stadion ist es egal, wie viel Geld man hat, welcher Religion man angehört, welche Hautfarbe man hat. Jeder Mensch ist gleich, und danach lebt Carsi. Die Reichweite und die Plattform des Fußballs werden aktiv genutzt, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Carsi hat keine festen Strukturen, wie sie die meisten Ultragruppen haben. Es gibt keine Chefs. Aber es gibt die „älteren Brüder“, die Gründergeneration, die bei schwierigen Fragen zurate gezogen werden.

Seit über 30 Jahren treffen sich die Fans von Besiktas vor jedem Heimspiel am selben Treffpunkt im eigenen Stadtteil. Von da aus gibt es dann einen Fußmarsch zum Stadion. Normalerweise braucht man für den 1 Kilometer langen Weg zehn Minuten, in der Masse ist es meist eine halbe Stunde. Viele Tausend Menschen laufen dann gemeinsam, angeführt von Carsi. Die drei Gäste aus München erzählen uns, dass Carsi in der Türkei Vorreiter ist was neue und kreative Gesänge angeht. Viele andere Kurven würden die Gesänge von Carsi übernehmen. Sie sind berühmt für ihren Humor und ihre Kreativität, für ihre witzigen, zuweilen auch derben Lieder. Die Besiktas-Ultras sind laut, politisch und wenn es sein muss auch militant.

Neben den vielen Aktionen für den guten Zweck setzt sich die Gruppe auch immer wieder gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein. Politisch will sich die Gruppe dennoch nicht positionieren, auch wenn es im Kern von Carsi viele Linke und Sozialisten gibt. Schon immer war Carsi in den politischen Prozessen aktiv und hat diese mit organisiert. Einer von diesen Prozessen machte Carsi im Frühjahr 2013 sehr beliebt.

Vorgeschichte der Proteste

Am 03. November 2002 konnten bei den Parlamentswahlen in der Türkei nur die AKP (34,4 %), die Partei Erdogans und die CHP (19,4 %), eine kemalistisch-sozialdemokratische Partei, die Zehnprozenthürde überwinden. Erdogan war Vorsitzende der AKP und durfte zunächst nicht Ministerpräsident werden, da er vier Jahre zuvor noch durch das Äußern islamistischer Parolen verurteilt worden war. Die Gesetze wurden jedoch geändert und ein halbes Jahr später konnte Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen, bis heute hat sich daran nichts geändert.

Erdogan hat lange Zeit großen Rückhalt der Bevölkerung genossen, da er die Politik stabilisiert hat und es zu einem rapiden Wirtschaftswachstum kam. Kritik kam vor allem in seiner dritten Amtszeit auf, als Themen wie die Beschränkung im Ausschank und Verkauf von Alkohol, Vermeidung von Abtreibung und Kaiserschnitt, die Kampagne zum Kinderreichtum oder Veränderungen im Schul- und Erziehungssystem zunehmend kritisch gesehen wurden. Mit Sorge wurde außerdem auch die Einschränkung der Pressefreiheit unter Erdogan betrachtet. Im Juni 2011 führten von Erdogan unterstützte Einschränkungen des Internetzugangs (Filtern von bestimmten Inhalten) zu heftigen Protesten innerhalb und außerhalb der Türkei.

Der Taksim-Platz

Der Taksim-Platz – Das Symbol von Demokratie

Auch die Einschränkung des Alkoholkonsums wird kritisch beäugt und von liberalen Türken als Symbol einer fortschreitenden Islamisierung der Türkei empfunden. Dem Verbot zufolge dürfen nach 22 Uhr keine alkoholischen Getränke mehr in Restaurants, Bildungseinrichtungen, Raststätten und Stadien ausgeschenkt werden. Ein Anliegen für die Demonstrationen 2013 war die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung als Mittel zur Bekämpfung von Korruption. Gigantische Bauprojekte wurden mit Vetternwirtschaft und Korruption in Verbindung gebracht. Der Gezi-Park, auf dem ein Einkaufszentrum entstehen soll, ist eine der letzten verbliebenen Grünflächen mit Bäumen in der Innenstadt Istanbuls. Der angrenzende Taksim-Platz ist ein Symbol für politische Demonstrationen geworden.

Die Proteste in Istanbul

Einsatz von Tränengas Taksim-Platz

Einsatz von Tränengas Taksim-Platz

Am 27. Mai 2013 begannen erste Bulldozer mit der Entwurzelung von Bäumen im Gezi-Park. Die erste Kundgebung wurde gestartet. Einen Tag später gibt es bereits mehrere Demonstranten der „Gezi-Initiative“ sowie der Initiative „Solidarität mit dem Taksim Platz“, die Polizei schreitet mit Tränengas ein. Die Protestbewegung wurde immer größer und am Abend des 30. Mai waren es schon geschätzt zehntausend Demonstranten. In den folgenden Tagen wurde vor allem die Brutalität der Polizei deutlich. Tausende Personen wurden durch Tränengas oder Wasserwerfer verletzt, Videos dienten als Beweismaterial. Auch aus anderen Ländern wurden kritische Stimmen an dem Vorgehen lauter, Erdogan verteidigte die Polizeieinsätze.

Am 31. Mai wurde die Protestwelle endgültig zu einem Massenphänomen, circa 100.000 Menschen sollen sich an diesem Tag bereits im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz aufgehalten haben. Verletzungen, sogar Tote, Verhaftungen und brutale Polizeieinsätze waren Alltag. Schon am 05. Juni 2013 soll es 4350 Verletzte gegeben haben. Am 11. Juni schritt die Polizei zehn Tage nach ihrem Rückzug wieder auf den Taksim-Platz vor und lieferte sich schwere Auseinandersetzungen mit den Demonstranten. Am Morgen des nächsten Tages räumte die Polizei den Taksim-Platz, am 15. Juni wird der Gezi-Park trotz Anwesenheit vieler Touristen und Familien gewaltsam durch Ordnungskräfte geräumt. Ärztliche Hilfe für verletzte Menschen soll von der Polizei vollständig blockiert worden sein. Es wurde mehrmals der Rücktritt Erdogans gefordert. Auch in anderen türkischen Städten kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. In der Nacht auf den 23. Juni wird der Taksim-Platz erneut geräumt. Erst am 08. Juli wird der Gezi-Park wieder geöffnet, seit dem 15. Juni war er geschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt weiß man von fünf Todesfällen. Insgesamt soll es zu 5513 Verhaftungen gekommen sein.

Die Rolle der Çarşı

In Istanbul werden von 39 Stadtbezirken 36 von der AKP regiert, nur drei von der CHP, darunter auch Besiktas. In der Revolte von Istanbul sind es die Ultras von Carsi, die eine wichtige Rolle spielen. Carsi war sowohl bei den Mobilisierungen, als auch an der Organisation im Gezi-Park aktiv beteiligt. Sie führten mehrmals große Demonstrationszüge aus dem Stadtteil Besiktas zum Taksim an. Aufgrund ihrer alltäglichen Erfahrungen in den Auseinandersetzungen mit der Polizei waren sie sehr aktiv bei der Verteidigung der Besetzungen des Taksim-Platzes und Gezi-Parks. Sie waren dabei, als es darum ging Barrikaden zu bauen und diese zu verteidigen. Ihr Block hielt lange dem Tränengas stand. Im Bekämpfen von Gas-Granaten und Wasserwerfern waren sie Fachleute. Dass sich in den Tagen des Protests jeder mehr zutraute, als er selbst je vermutet hätte, lag an den Jungs, die die vorderste Front bildeten: Carsi, die Ultras von Besiktas. Carsi-Leute waren dabei, als es darum ging, in den ersten Tagen der Parkbesetzung die fliegenden Händler zu vertreiben – in der „Republik Gezi“ sollte eigentlich kein Geld zählen. Sie schlichteten Streitereien zwischen den miteinander verfeindeten Gruppen und versuchten, für die Sicherheit aller zu sorgen. Nach der ersten Räumung des Gezi-Parks waren sie es, die die Polizeiketten sprengten, den Park zurückeroberten und dafür sorgten, dass sich die Polizei zeitweise völlig aus der Innenstadt zurückzog.

Çarsi durchbricht die Absperrungen mit einem Bagger

Çarsi durchbricht die Absperrungen mit einem Bagger

Besonders von sich reden machten Carsi-Leute mit einer Aktion am Dolmabahçepalast, als einige von ihnen einen Bagger kaperten, mit ihm auf die Wasserwerfer zufuhren und diese verdrängten. Im Gezi-Park war die Ecke mit ihren Zelten stets die lauteste, bei den Aufmärschen war ihr Block der fröhlichste. Genau eine Woche vor der Räumung hatten die Fans der drei großen Klubs (Fenerbahce, Galatasaray, Besiktas) den Taksimplatz in das gleißende Lila ihrer Bengalos getaucht. Der Aufzug der Besiktas-Fans war der größte und bunteste: 40.000 Menschen liefen auf den Platz, mit Fahnen und Bengalos. Wer vermutet, dass es den Ultras von Besiktas nur um Krawall geht, tut ihnen also Unrecht. Sich an politischen Aktionen zu beteiligen, ist für Carsi-Leute nichts Ungewöhnliches.

Nicht umsonst erinnert das „Ç“ im Logo an eine Sichel, das traditionelle Symbol der Sozialisten, nicht umsonst ist das „A“ zum Anarchie-A eingekreist. Carsi steht links. Keine 1.Mai-Demo findet ohne sie statt. In den Tagen des Protests ist es Carsi, die neue Lieder kreieren. „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“, ist die bekannteste Parole.

Los, schieß dein Gas / Los, schieß sein Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh den Helm aus / Zeig, dass du dich traust

ist das einzige Lied, das von allen Fans in Istanbul getragen wird, erfunden von Besiktas-Fans. Carsi hat den Witz und die Kreativität der Gesänge vom Stadion auf die Straße getragen, vielleicht der größte Anteil an dieser Bewegung.

Ankunft von Çarsi und anderen Istanbulfans am Taksim-Platz

Ankunft von Çarsi und anderen Istanbulfans am Taksim-Platz

Die Erdogan-Regierung fürchtet Carsi. So wird Carsi als kriminelle Vereinigung bezeichnet. Es wurde nach den Protesten Druck auf Carsi ausgeübt, in den Stadien sollten politische Slogans gänzlich verboten werden. Doch Carsi hat sich nicht unterkriegen lassen und stand immer für seine Rechte und die Rechte des türkischen Volkes ein. Ohne Carsi wären die Proteste in Istanbul nicht so organisiert verlaufen. Fußball kann mehr sein, als zwei Clubs die gegeneinander spielen. Fußball kann mehr sein, als es dargestellt wird. Fußball ist politisch. All das wurde in Istanbul eindrucksvoll bewiesen. Die Bezeichnung als die besten Fans der Welt kommt nicht von ungefähr. Carsi unterstützt den eigenen Verein Besiktas Istanbul immer hervorragend, nutzt die Plattform des Sports gleichzeitig aber auch, um auf Missstände aufmerksam zu machen und diese aktiv zu bekämpfen.

Insgesamt war es ein unglaublich interessanter Vortrag der drei Mitglieder von Carsi München. Danke dafür!

Und wir alle haben gelernt: Fußball hat eine große gesellschaftliche Bedeutung und lässt sich nicht nur auf das reine Spiel reduzieren. Fußball und Politik sind unmittelbar miteinander verknüpft und nicht zu trennen!

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1 Antwort

  1. Edo Schmidt sagt:

    Ich fand an der Veranstaltung besonders interessant, dass die Drei von Çarşi München so klar ihre Standpunkte vertraten:

    1. Zu ihrer Art von Politik wurde gesagt: „Çarşi ist gegen alles, auch gegen sich selbst!“
    Die Ultras von Çarşi protestieren gegen alles, was Ungerechtigkeit produziert. Daher waren sie bei den Protesten im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz dabei. Ihr Ziel war es nicht, Gewalt gegen die Polizei anzuwenden, sondern sich dort in der „Kommune“ im Park einzubringen und diese zu verteidigen, weil sie empfanden, dass sie das Recht hierzu hatten. Denn normaler Weise lehnen sie Gewalt ab, da sie sich nicht schwächen wollen: „Wenn dein Gegner von dir etwas erwartet, z.B. dass du Gewalt anwendest, dann tue genau das Gegenteil!“ sagte beispielsweise einer der Beşiktaş-Ultras.

    2. Zu ihrem Verhältnis zum Verein sagten sie: „Zuerst kommt der Verein. Erst dann kommen wir Ultras, denn ohne den Verein wären wir gar nicht da. Und dann erst kommt die Vereinsführung.“
    Diese eindeutige Hierarchie erklärt, warum sie z.B. im Stadion keine Pyrotechnik zünden. Denn dies würde ihrem Verein schaden, den sie ja über alles lieben und bedingungslos unterstützen wollen. Ohne ihren Verein seien sie schließlich nichts, nicht mal eine Gruppe. Sie erzählten aber auch, dass sie sich ihren Platz im Stadion erkämpfen mussten – gegen andere Fangruppen und z.T. gegen die Vereinsführung. So gab es neulich z.B. auch eine Gruppe von „Fans“, die von der Erdogan-Regierung bezahlt wurden, um Çarşi den Platz im Stadion auf der Gegengerade streitig zu machen. Die Vereinsführung habe übrigens hierbei mitgemacht, weshalb sie ihr nicht auf Augenhöhe begegnen. Sie fühlen sich überlegen, da schließlich Çarşi länger und intensiver den Verein unterstützt als jedes Mitglied der Vereinsführung.

    3. Çarşi erwarb sich mehrmals durch die gelebte Solidarität mit Unterdrückten und sozial Schwachen innerhalb der türkischen Zivilgesellschaft eine hohe Anerkennung. Deshalb falle es der Regierung Erdogan oder anderen „Gegnern“ von Çarşi schwer, diese Ultragruppierung zu diskreditieren. Innerhalb „ihres“ Viertels in Istanbul geht ihre Integrität soweit, dass EinwohnerInnen z.B. mit ihren Familienproblemen zu den Ältesten von Çarşi kommen: „Mein Sohn macht so viel Blödsinn. Bitte, rede du mal mit ihm!“. Damit wird Çarşi eine Rolle bzw. eine gesellschaftliche Funktion zugeschrieben, die sonst eher von Institutionen wie der Polizei, der Schule oder der Moschee ausgeübt wird.

    Natürlich berichteten die Drei in ihrem Vortrag, der gut zweieinhalb Stunden dauerte, noch mehr über die Aktivitäten von Çarşi, aber z.B. auch, dass derzeit gegen rund fünfzig Mitglieder der Gruppe Haftbefehle erlassen und Ermittlungen angestellt wurden, denen vor allem „Rädelsführerschaft“ und „Widerstand gegen Polizeibeamte“ bei den Taksim-Protesten vorgeworfen wird. Somit ist die Gruppe gerade sehr stark von Repression bedroht. Dass sie mit ihrer positiven Fankultur diese bedrohliche Situation übersteht, bleibt zu hoffen.

    Edo Schmidt

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