Preußen und der Sündenbock

2019/2020 - Der Heim-Blog

Leitbild und Philosophie

Die Entscheidung, vor der der Verein nun steht, ist eigentlich eine ganz einfache. Will man den Aufbau von nachhaltigen Strukturen fortführen? Auch zu dem Preis, dass es auf diesem Weg Rückschläge gibt? Oder will man populistisch verfahren, um einige Jahre später zu konstatieren: Es hat sich nichts geändert. Noch schlimmer: Die Konkurrenten sind uns noch weiter enteilt – infrastrukturell, strukturell und finanziell.

Der SCP benötigt dringend ein Leitbild und eine Philosophie, die unabhängig von der Ligazugehörigkeit Gültigkeit besitzen. Die auch noch in der 4. und in der 2. Liga Bestand haben. Von dieser kann man mal temporär abweichen, beispielsweise um eine Liga zu halten. Aber eben nur temporär. Ansonsten erfährt man das Schicksal des Hamburger SV. Und das Elend geht endlos weiter. Dass beim SCP seit dem Abstieg aus der 2. Liga ständig die Trainer wechselten, hat auch mit dem Fehlen einer Philosophie zu tun. Felix Magath auf die Frage des „Kicker“, ob die Werder-Verantwortlichen an Florian Kohfeldt festhalten sollten: „Das hängt von der Philosophie des Vereins ab. Hat man eine? Oder hat man keine? Aber die meisten Vereine haben leider kleine. Deswegen werden bei weniger guten Ergebnissen die Trainer ständig entlassen.“ (Eigentlich bin ich kein Magath-Freund. Aber manchmal sagt er richtig kluge Dinge.)

Bei MM ist eine Philosophie erkennbar. Aber ist dies auch die Philosophie des Klubs? Dann müsste er diese offensiver und mutiger kommunizieren. Dann würde sich ein Abstieg immer noch beschissen anfühlen – aber nicht wie das Ende aller Tage. Was andere Klubs aus der 3.-Liga dem SCP diesbezüglich voraus haben, kann man u.a. auf den Webseiten der SpVgg. Unterhaching und der SG Sonnenhof-Großaspach besichtigen.

Nun, wo das seit 28 Jahren verfolgte Ziel der Rückkehr in die 2. Liga nur noch ein fernes ist, auch weil das Geld knapper wurde, fallen die Preußen in ein Loch. In solchen Situationen wirken das Fehlen von Leitbild und Philosophie sowie klar definierter Planken, innerhalb derer man sich bewegt, besonders schmerzhaft. Man befindet sich in einer Sinnkrise. Dies gilt auch für einen Teil der Fans. Frust, Bashing in den sozialen Netzwerken und Rückzug sind auch eine Reaktion darauf, dass sich die mit der Person Walther Seinsch verbundenen Hoffnungen und Träume nicht erfüllt haben. Kritische Selbstreflexion? Fehlanzeige. Es ist doch viel einfacher, den Kopf von MM zu fordern.

Münster ist kleiner als Ingolstadt

Es ist kein Geheimnis, dass MM einige Monate nach seinem Amtsantritt in Münster darüber irritiert war, was er dort NICHT vorfand. Hat MM seinen Job beim SCP mit falschen Annahmen angetreten? Damals herrschte eine Aufbruchstimmung: Neues Stadion, Investitionen in die Mannschaft, Angriff auf die 2.Liga. Das alles basierte auf den Einstieg von Walther Seinsch. Heute muss man sich eingestehen, dass das Fundament für den großen Sprung nach vorne zu weich war. Im Sommer 2019 lag MM ein Angebot aus Ingolstadt vor. Vielleicht bereut er heute, dass er dies nicht angenommen hat. Viele der Aufgaben, denen sich MM in Münster widmen musste und muss, waren in Ingolstadt bereits erledigt.

MM hatte an ihrer Erledigung noch selber mitgestrickt. In Ingolstadt hatte er gelernt, wie man einen richtigen Profiverein aufbaut und was alles zu einem solchen gehört. Metzelder im Interview mit Spox.com: „Der Verein hat bei null angefangen. Das Stadion war eine Bruchbude, die Strukturen de facto nicht vorhanden. Alles ist sukzessive verbessert und vergrößert worden – natürlich begünstigt durch den sportlichen Erfolg. Der Verein hat innerhalb kürzester Zeit Dinge auf den Weg gebracht, für die andere 100 bis 150 Jahre gebraucht haben. Ich bin stolz darauf, diesen Weg mitgestaltet zu haben. Daher war es am Ende eine schwierige Entscheidung, etwas zu hinterlassen, wo eine Menge Herzblut drinsteckt.

Wäre MM im Sommer 2019 in den Süden zurückgekehrt, hätte er die Preußen nach einer Saison verlassen, die – statistisch betrachtet – eine der besten der jüngsten Geschichte war: Klassenerhalt der Profis (trotz Senkung des Spieleretats), Aufstieg der U23 in die Oberliga, Klassenerhalt von U19 und U17 in der Junioren-Bundesliga. Wir hätten gesagt: „Schade. Er hat hier einiges eingestielt. Und erfolgreich war er auch.“ Aber MM ist geblieben, weil er seine Mission in Münster noch nicht beendet sah. Die erfolgreiche Saison 2018/19 wird allein Antwerpen gut geschrieben. Als ob es damals den Sportdirektor noch nicht gegeben hätte. Die aktuelle Erfolglosigkeit wird allein MM angelastet.

„Wir müssen erst die Standards erreichen.“

Ein Interview mit MM aus dem „Donaukurier“ vom 25.10.2019 bringt die Dinge ganz gut auf den Punkt, sollte zum Nachdenken anregen und beinhaltet mehr Wahrheit als viele Kommentare im Netz. Informiert darüber, was heute Standard in der 3. Liga ist (und auch bei einigen Vereinen in der Regionalliga), sprach Metzelder davon, dass der SCP die Grundlagen für eine Daseinsberechtigung im Profifußball schaffen müsse. Ein Fan, der eben noch von einer 40.000-Mann-Arena träumte, der tatsächlich glaubt, der SCP sei ein schlafender Riese, hört so etwas natürlich nicht gerne.

Hier das Interview in Auszügen:  

„Donaukurier“: „Sie hätten im Sommer beim FCI Geschäftsführer werden können, als Vereinsvorstand Peter Jackwerth bei Ihnen angefragt hat. Warum haben Sie es nicht gemacht?“

Metzelder: „Ich habe mich über das Interesse gefreut und war ja auch die längste Zeit meiner aktiven Karriere in Ingolstadt. Aber ich habe mich nicht mit einem Wechsel beschäftigt. Preußen Münster ist die Wiege meiner Profilaufbahn, daher habe ich einen besonderen Bezug zu dem Verein. Wir bauen hier gerade gemeinsam etwas auf, da kann ich dann nicht der erste sein, der das Schiff verlässt.

„Donaukurier“: „Preußen Münster hat eine große Fußballtradition. Macht das die Aufgabe noch schwieriger, weil die Sehnsucht nach den früheren Erfolgen auch die Erwartungshaltung erhöht?“

Metzelder: „Der Verein hat eine lange Geschichte, klar ist auch die Sehnsucht nach der zweiten Liga da. Aber das ist aktuell Romantik und nicht realistisch. Wir müssen erst die Rahmenbedingungen schaffen, um die Wahrscheinlichkeit für sportlichen Erfolg zu erhöhen. Wir haben ein altes Stadion, bescheidene Arbeitsbedingungen, die die Mitarbeiter bewundernswert annehmen, und wir haben noch kein Nachwuchsleistungszentrum. Wir müssen erst die Standards erreichen, die bei vielen Vereinen in der 3. Liga schon Gewohnheit sind. Da ist uns der FCI meilenweit voraus.

„Donaukurier“: „Das klingt nach viel Arbeit für Sie. Was packen Sie zuerst an?“

Metzelder: „Die Stadt hat für die Stadionsanierung 40 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt. Wir sind dabei, den Standort sichtbar weiterzuentwickeln und brauchen schlichtweg die strukturellen Voraussetzungen für eine Daseinsberechtigung im Profifußball.

Was tun?

Leitbild und Philosophie wurden bereits genannt. Des Weiteren: Fortsetzung des von MM betriebenen Aufbaues von sportlichen Strukturen. Wobei dies schwierig ist angesichts des Desinteresses an etwas tiefergehenden und konzeptionellen Debatten sowie der preußen-typischen Ungeduld. Hinzu kommt der Mangel an Geld. Man wird hier weiterhin auf das Preußen-Herzblut einiger Mitarbeiter angewiesen sein.

Dann bedarf es einer offensiven Kommunikationsstrategie. In Gesprächen – auch mit Politikern! – stellt man immer wieder fest, dass der Gegenüber wenig über den SCP weiß. Wenig über dessen Probleme, wenig darüber, was der Klub gut macht, nichts über seine konzeptionellen Vorstellungen. Vielen Menschen ist noch immer nicht klar, in welchem sportlichen und finanziellen Umfeld sich der SCP bewegt.

Wenn man in die Mitte der sogenannten Stadtgesellschaft will, dann muss man auch Themen bespielen, die auf den ersten Blick nicht die eigenen sind. Der SCP muss noch stärker von sich aus versuchen, eine Brücke in diese Stadtgesellschaft zu schlagen, beispielsweise auch über die kulturelle Schiene. Meinard Zenger, Leiter des wunderbaren Wolfgang-Borchert-Theaters, ist schon mal im Stadion. Der ist zwar in erster Linie Fan des 1.FC Köln, was aber bedeutet: Der Mann ist offensichtlich leidensfähig. Götz Alsmann sieht man ebenfalls ab und an. Was machen wir daraus?

Ich bin davon überzeugt, dass sich in Münster auch auf diesem Feld etwas entwickeln lässt. Wo auch das nichtfußball-affine Münster zumindest sagt: „Die Preußen, die machen schon auch gute Sachen! Die sind gar nicht so borniert, wie man dies von einem Profiklub erwartet!“ Beispiel Kunstrasen und Stadion: Beim Kunstrasen hätte der SCP sagen können: „Wir legen großen Wert auf ein umweltfreundliches Granulat!“ Das grüne Spektrum hätte aufgehorcht. „Ein Profiklub, der sich Gedanken über Nachhaltigkeit macht!

Und beim Stadion? „WIR, der SCP, wollen es klimaneutral!“ Damit könnte man schon vielen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. (Ganz abgesehen davon, dass eine klimaneutrale Spielstätte auch sinnvoll ist.) Die Initiative zu solchen Dingen muss vom SCP ausgehen. Der Klub muss hier gewissermaßen der Politik zuvorkommen.

Der SCP hat großartige Jugendtrainer, die großartige Arbeit leisten. Dass der SCP mit seiner U19 und U17 in der Bundesliga spielt, also gegen den Nachwuchs der Erstligisten Schalke, Dortmund, Gladbach, Köln, Düsseldorf und Leverkusen, bei denen einige Akteure mehr Geld verdienen als einige SCP-Profis, ist ebenfalls keine Selbstverständlichkeit. Dies wird nur viel zu wenig beachtet. Man sollte die Nachwuchspolitik offensiver vermarkten – auch unabhängig von den Profis. Es gibt Leute, die sind eher dazu bereit, eine auf Nachhaltigkeit angelegte Jugendarbeit als eine Profimannschaft zu sponsern. Die Profimannschaft würde aber davon profitieren – mehr „home grown player“ für den Kader der „Ersten“. Als Thomas Bäumer sich zurückzog, habe ich für einen Moment gehofft: Er setzt sich ein Denkmal in Münster, indem er zwei bis drei Mio. Euro für den Bau eines NLZs zur Verfügung stellt. (Wäre allerdings ziemlich viel verlangt gewesen.) Das Ganze hätte man dann „Thomas-Bäumer-Fußballschule“ nennen können.

Und was das NLZ anbelangt, für MM ein wichtiges Anliegen: Die Jugendarbeit gibt einem Verein Seele und Image. Auch hier lässt sich das Profil eines Vereins durch einen individuellen Weg schärfen. Dieses NLZ ist auch unter finanziellen Gesichtspunkten von großer Bedeutung. Ohne NLZ muss der Klub Jahr für Jahr talentierte und von ihm ausgebildete Talente ablösefrei ziehen lassen.

Das Problem ist aktuell: Zu viele Baustellen, darunter die Großbaustelle Stadion, aber nicht ausreichend Leute, die diese bearbeiten können. Und kein Geld, um weitere Mitarbeiter einzustellen. Der SCP ist ein Klub unter permanentem Stress und überstrapaziert. Dies sollte man immer berücksichtigen, bevor man auf irgendeinen Funktionsträger herumhackt.

Ja, die Situation ist schwierig. Aber ohne große Herausforderungen ist das Leben doch eher langweilig. Ich mag es, wenn alle glauben, es geht den Bach hinunter. Gerade dann heißt es: „Visier hoch und raus aus der Defensive!“ Das ist anstrengend, manchmal furchtbar mühselig. Und es gibt Situationen, in denen man wie Johan Cruyff sagen möchte: „Wenn ich gewollt hätte, dass ihr mich versteht, hätte ich es euch besser erklärt.

Wenn behauptet wird, der Verein sei im Falle eines Abstiegs in die Regionalliga zwangsläufig tot, muss man widersprechen. Das ist nur so, wenn man es so will. Apokalyptische Visionen sind der Zwilling der seit Jahren geschürten Illusion, die 3. Liga sei das allermindeste, was diesem Klub und dieser Stadt gebühre. Wer die Fallhöhe künstlich hoch setzt, ohne der Realität einer veränderten Fußballlandschaft Rechnung zu tragen, stürzt halt auch tief.

Noch einmal zur Erinnerung: Die Amtszeit de Angelis / Bäumer begann mit einem Abstieg in die Oberliga (4. Liga). Und der Aufstieg in die eingleisige 3. Liga war nicht irgendeinem fantastischen Konzept mit stabiler Basis geschuldet, sondern nicht zuletzt dem finanziellen Engagement von Thomas Bäumer. MM: „Wir möchten Strukturen schaffen, in denen die Wahrscheinlichkeit steigt, sportlichen Erfolg zu haben. Es gibt auch Vereine, die in Beine investieren und bei denen es auch klappt. In Münster hat man das in dieser Schiene lange versucht. Aber dieser Weg ist ja endlich. Wenn ich nichts mehr in der Tasche habe, ist es vorbei.

Ich habe neulich mit einem Ex-SCP-Präsidenten gesprochen. Ein Ex, der den Klub richtig liebt. Der den SCP in die Wiege gelegt bekommen hat. Er erzählte mir, dass in seine Zeit als Präses noch heute manchmal nachts verfolge. Was für eine riesige Last von ihm abgefallen sei, als er vom Amt zurücktrat. Das macht mich verdammt nachdenklich.

Ruud Krol

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9 Antworten

  1. Hannes Nordmeyer sagt:

    Welch ein supertalentiert Artikel!!!

  2. Hannes Nordmeyer sagt:

    Supertoller!

  3. Mike sagt:

    Super Geschrieben! Sollte für einige Pflichtlektüre werden!

  4. Hans Werner sagt:

    Großartig! Am liebsten würde ich den Artikel mehrfach ausdrucken und allen Nörgeln und Unwissenden in die Hand drücken.

  5. Simon sagt:

    Klasse Kommentar! Erfrischend „andere“ Sichtweise.

  6. Klaus Jürgens sagt:

    Welch ein super Artikel ! An alle Vereinsmitglieder verschicken und Malte Metzelder auf der Jahreshauptversammlung hoch Leben lassen!!!

  7. Andreas Beckmann sagt:

    Ich bin Vereinsmitglied und MM trägt nunmal die Hauptverantwortung.
    Selbst wenn man alle anderen Kritikpunkte fallen ließe – 8 sieglose Spiele hätten reichen können für die Erkenntnis, das der Trainer mit seinem und MM´s Konzept gescheitert ist. Waren es 14? oder 15 Spiele ohne Sieg??? Auf jeden Fall viel zu spät.
    Doppelt geschrieben????
    Ja – ich bin einer der bösen Kritiker des Herrn Metzelder aus dem bösen Forum…

  8. Joachim sagt:

    Besser kann man es nicht beschreiben. Endlich mal liegen die Dinge richtig beschrieben auf dem Tisch. Sehr gut. Danke dafür!

  9. Henning wossidlo sagt:

    Ich habe in den 60iger Jahren in der C Jugend gespielt und lebe jetzt seit 35 Jahren in Wiesbaden und leide fast jede Woche seit meinem Abschied aus Münster. Immer wenn ich die Vorstandsriege bei den Spielen in Wiesbaden zu „nachhaltigen“ Abendessen eingeladen hatte, keimte Hoffnung auf. Dieser fantastische Artikel sollte Anlass geben, tatsächliche Entscheider und potentielle Sponsoren für das Überleben des Vereins und die Vision Zukunft zu gewinnen und einzunehmen. Vielleicht findet sich ja dann auch noch ein es ernst meinender „Macher“

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