Weißt Du noch?: Ein Wechsel für die Geschichte
Hand auf’s Herz: Wer von euch weiß noch, was er oder sie am 3. Februar 2018 gemacht hat? Naaa? Strengt euch ein bisschen an! Es kann nur mit Fußball zu tun haben. Falls es gerade nicht so richtig klappt, gebe ich euch jetzt mal einen Tipp: Bei diesem Spiel waren Benno Möhlmann und Marco Antwerpen im Stadion. Und es fielen sechs Tore. Auswärts.
Bei einigen von euch klingelt es wahrscheinlich schon. Für alle anderen gibt es jetzt den entscheidenen Tipp: Rizzi. Michele Rizzi. Und? Wissen es jetzt endlich alle? Die Rede ist natürlich von einem der beklopptesten Preußenspiele der letzten fünf Jahre: Das 4:2 gegen die zweite Mannschaft von Werder Bremen.
Immer eine Reise wert?
Unter Preußenfans erfreute sich das Auswärtsspiel gegen die Werder-Bubis immer einer etwas zweifelhaften Freude. Auf der einen Seite dauerte die Fahrt nicht lange und man konnte trotz Auswärtsfahrt morgens ausschlafen. Wohl auch deshalb waren in den Jahren vor besagtem Spiel immer einige Fans aus Münster angereist. Und zwei spannende Umstiege am Bahnhof der niederen Sachsen gab es für die Zugreisenden ja immerhin gratis dazu.
Das war im Februar 2018 deutlich anders. Die aktiven Fans um FGK und Deviants hatten sich nach der kurz zuvor erfolgten Ausgliederung erstmal zum Rückzug entschlossen. Wie wir heute wissen, war das eine dauerhafte Entscheidung. Für diesen konkreten Tag in Bremen bedeutete das ein sehr trauriges Bild: Insgesamt waren 510 Zuschauer da, von denen es vielleicht die Hälfte mit den Adlerträgern hielt. Ein Jahr zuvor waren es noch dreimal so viele Zuschauer gewesen und rund 700 von ihnen trugen den Adler im Herzen.
Ein seltsamer Spielort
Aufgrund der Umstände war der Enthusiasmus für diese Partie also deutlich niedriger als in den Vorjahren. Und dann war da noch ein anderes, noch grundsätzlicheres Problem: Platz 11, das „Stadion“ der Werder-Amateure. Spiele hier fühlten sich nie wie ein richtiges Ligaspiel an. Hinter dem Auswärtsblock – wenn man ihn denn so nennen will – befinden sich eine Tennisanlage und Kleingärten. Rein vom Ambiente her hätte man die Werder-Jungs auch nach Münster einladen können und in Hiltrup oder auf der Sentruper Höhe zocken können. Da gibt es auch Laufbahnen um den Platz und irgendwer hätte bestimmt einen Bierwagen aufgestellt. Nach einer Profiliga hätte es da aber auch nicht ausgesehen.
Stimmungsboykott, nur wenige Fans und dann natürlich noch allerfeinstes Februar-Mistwetter. Da konnte das Spiel doch nur gut werden, oder? Natürlich nicht. In der ersten Halbzeit bekamen beide Teams nicht so wahnsinnig viel auf die Kette. Bremen war sogar etwas besser und ging nach 20 Minuten in Führung. Danach passierte in meiner Erinnerung nicht mehr viel. Naja, bis auf die fünf bis sechs Jungs neben mir im Block, die vom Alkohol getrieben ihre ganz eigene Version von „Vamos a la Playa“ zum Besten gaben. In Dauerschleife. Bei zunehmender Heiserkeit. War geil. Nicht!
Die Vorentscheidung
Zur Halbzeit ging Martin Kobylanski vom Platz. Das war erstaunlich und zugleich auch nicht. Unter der Woche hatte er gegen Erfurt noch gezaubert, aber gegen Bremen ging für ihn erstaunlich wenig. Es kam Michele Rizzi. Und der sorgte dann auch gleich für die Vorentscheidung. Das dachte ich jedenfalls zu diesem Zeitpunkt.
Am Mittelkreis versuchte er nach vorne durchzustecken. Stattdessen prallte der Ball von einem Bremer Bein ab und der Ball war bei den Werderanern. Das Problem: Die Abwehr um Simon Scherder und Jeron Al-Hazaimeh war weit aufgerückt. Ein Pass in die Schnittstelle, noch ein Querpass und in der Mitte musste Manneh nur noch den Fuß reinhalten. 2:0 für die stark abstiegsgefährdeten Bremer.
Fußballprofis gehen interessante Wege
Aber Moment mal! Wer hatte da Rizzi überhaupt unter Druck gesetzt und damit den Ball abgenommen? Wer spielte den Querpass auf Manneh wie ein ganz Erfahrener? Wer war dieser Blondschopf mit der Rückennummer 25? Das war tatsächlich Fridolin Wagner. DER Frido Wagner, der inzwischen bei uns seine Schuhe schnürt und sich zum Leistungsträger entwickelt hat. Auch so eine Ironie des Profigeschäftes Fußball.
Was da noch niemand wusste: Für die Bremer war es die letzte wirklich gelungene Aktion. Denn die folgenden 35 Minuten waren komplett irre. Nur zwei Minuten nach dem 2:0 gab es – man höre und staune – einen Elfmeter für Preußen Münster! Touré hatte im Strafraum etwas zu viel an Adriano Grimaldi herumgerupft. Rizzi legte sich den Ball zurecht und hämmerte den Ball an Eric Oelschlägel vorbei unter die Latte. Dieser Oelschlägel wärmt aktuell übrigens bei Borussia Dortmund die Bank. In der ersten Liga. Keine Pointe. „Immerhin ein Lebenszeichen“, dachte ich mir auf der Tribüne. „Vielleicht geht ja noch was.“
Die Preußen leben noch!
Und nur fünf Minuten später klingelte es schon wieder. Nach einer Kombination, die angesichts der Beteiligten auf unserer heimischen Gegengerade Zungeschnalzen ausgelöst hätte. Und das ging so: Lange Flanke von Fabian „Eisen“ Menig in den Bremer Strafraum. Genau auf die Birne von „Gegengerade-Favorit“ Jeron „Hasi“ Al-Hazaimeh. Und dessen Kopfball-Flanken-Misch-Dingens landet auf der Brust von Michele Rizzi. Der lässt den Ball herunter tropfen und zieht aus der Drehung direkt ab. 2:2!
2:2? So ganz sicher war ich mir damals im ersten Moment nicht. Die Bremer Bubis plädierten beim Schiri wild gestikulierend auf Handspiel von Rizzi. Zugegeben, das sah im ersten Moment schon komisch aus, aber wenn der Schiri das Tor jetzt zurücknehmen würde, wäre der ganze schöne Schwung sicherlich weg. Aber er tat es nicht. Ausgleich! Jubel beim Münsteraner Haufen! Zumindest ohne Punkte würde es heute wohl nicht zurück nach Hause gehen.
Anatomie eines Tores
In meiner Erinnerung war danach noch nichts klar. Bremen war zwar geschockt, versuchte aber weiterhin ein paar Sachen in Richtung Preußen-Tor. Doch dann: Wir schreiben die 71. Minute und Rizzi schlägt eine hohe Flanke von der rechten Seite in den Bremer Strafraum. Bremen klärt den Ball zu kurz und der Ball landet am linken Strafraumeck bei Al-Hazaimeh. Rizzi läuft da schon durch die rechte Strafraumecke und orientiert sich in die völlig freie Mitte vor dem Strafraum. Schon jetzt scheint er auf einen Abpraller zu spekulieren.
Im Spekulieren versucht sich in diesem Moment auch Jeron Al-Hazaimeh. Der sieht den Ball auf sich zukommen, positioniert sich und zieht dann voll ab. Doch der Ball prallt an einem Bremer Bein ab. Ratet mal an welchem! Natürlich ist es wieder Frido Wagner, der den Ball zunächst klären kann. Aber dieses Mal landet der Ball nicht bei einem seiner Mitspieler, sondern bei Danilo Wiebe. Michele Rizzi befindet sich jetzt auf der 16er-Linie. Ungefähr vier Meter neben ihm läuft Marc-Andre Kruska, der beim BVB mal unter Thomas Doll gespielt hat und zu den ältesten und erfahrensten Spielern im Kader der U23 gehört.
Rizzis richtige Routen
Beide blicken auf die Flanke von Danilo Wiebe, die in Richtung Fünfmeterraum segelt, wo sich „Kopfballungeheuer“ Tobias Rühle und Adriano Grimaldi positioniert haben. Rizzi sprintet in Richtung Elfmeterpunkt und Kruska zieht mit. Auch Philipp Hoffmann ist von der rechten Seite zum Elfmeterpunkt gelaufen. Kruska steht jetzt allein gegen zwei Preußen und sein Blick ist auf den Ball gerichtet.
Irgendetwas muss Rizzi in diesem Moment gesehen haben. Vielleicht, dass der Ball über Rühles Kopf hinwegsegeln wird. Oder seine Erfahrung sagt ihm das Werders Abwehrspieler Dominic Volkmer den Ball nicht ordentlich klären wird. Weil dieser eben nicht weiß, dass der Ball über Rühles Kopf hinwegsegeln wird. Möglicherweise hat er auch Philipp Hoffmann gesehen und will die Situation etwas entzerren. Was auch immer es ist: Er bleibt stehen. Kruska, der Mann mit der Bundesliga-Erfahrung, läuft einfach weiter und entfernt sich so von Rizzi.
„Fuck! Der war doch gerade noch woanders!“
Und das wird jetzt wichtig: Denn Dominic Volkmer ist tatsächlich von der Flanke ein bisschen überrascht und klärt den Ball nicht, sondern fabriziert eine Kerze. Rizzi steht jetzt genau richtig, während Kruska noch Richtung Tor läuft. Wäre Kruska mit Rizzi stehengeblieben, käme es gleich zu einem Kopfballduell zwischen den beiden. Der Ball ist über den Köpfen aller Spieler. Erst jetzt kommt Kruska zum Stehen und dreht sich um. Er sieht Rizzi, der den Ball fixiert und sich für einen Volley positioniert.
Was genau Kruska jetzt durch den Kopf geht, wissen wir natürlich nicht. Wahrscheinlich aber irgendwas mit „Fuck, der war doch gerade noch woanders!“ Er stürzt auf Rizzi zu und versucht noch zu verhindern, was nicht mehr zu verhindern ist. Rizzi trifft den Ball perfekt und dieser fliegt an Grimaldi, Volkmer und Oelschlägel vorbei ins Tor. Rizzi läuft in Richtung Zaun, wo ein Teil des Gästeblocks bereits jubelnd auf ihn wartet und gleichzeitig die Standfestigkeit des Zaunes testet. Spiel gedreht!
Eine unberechenbare Situation?
Das bald folgende 4:2 für unsere Jungs ist fußballerisch schöner, aber dieses 3:2 zeigt mit aller Deutlichkeit warum Rizzi an diesem Tag so vieles gelang. In den wenigen Sekunden zwischen Rizzis Flanke und seinem Torschuss passiert einiges: Der Ball fliegt hin und her, prallt von Beinen und Köpfen ab und nimmt wenig berechenbare Flugkurven an. Und was macht Rizzi? Er bleibt währenddessen auf seinem Weg und lässt einen Gegenspieler ins Leere laufen um so für den Fall der Fälle frei zu sein.
Das ist kein bloßes Raten, sondern fußballerischer Instinkt gepaart mit viel Erfahrung und einer kleinen Portion Schlitzohrigkeit. Dass der Ball nach seiner Flanke zu Beginn der Sequenz wieder bei ihm landen würde, konnte der Mittelfeldspieler höchstens ahnen. Es gibt so viele Varianten: „Hasis“ Schuss hätte drin sein können. Oder Wiebes Flanke landet erst auf Grimaldis Kopf und dann im Tor. Oder Frido Wagners Klärungsversuch landet im Toraus und es gibt Ecke für Preußen. Aber Michele Rizzi versucht alles, damit er ganz vielleicht richtig steht. Und heute wird das belohnt. Führung für Preußen!
Alles wird gut
Zugegeben: Im Block habe ich das natürlich nicht so genau gesehen. Ich war ähnlich überrascht wie Kruska, das Kollege Rizzi da plötzlich so frei im Strafraum herumstand. Und dafür, dass sich nicht allzu viele Preußenfans auf den Weg gemacht hatten, war es beim Jubel erstaunlich laut. Ein Foto der WN zeigt die Mannschaft direkt am Zaun, hinter ihnen rütteln die Fans am Zaun. Viel Freude ist da zu sehen und vielleicht eine Spur Fassungslosigkeit. Preußen führt, nachdem das Spiel schon fast verloren war.
Aber das Ding ist ja noch nicht durch! 3:2 ist ein verdammt knappes Ergebnis und es sind noch 20 Minuten zu spielen. Aus heutiger Sicht kann ich mich tatsächlich nur noch an das 4:2 erinnern, aber laut WN-Liveticker schafft es Bremen kurz nach dem Tor nochmal nach vorne. Schweers muss sogar auf der Linie klären. Aber an diesem Tag sollte den Werder-Bubis nichts mehr gelingen.
Das schönste Tor
Dann fiel mit dem 4:2 das schönste Preußen-Tor des Tages. Es ist schon die 90. Minute und ungefähr 40 Meter vor dem Tor hat Adriano Grimaldi nahe der linken Auslinie den Ball. Er dribbelt an und steckt den Ball zum eingewechselten Moritz Heinrich. Rizzi läuft parallel zu Grimaldi. Ein Bremer Abwehrspieler will zu Mo Heinrich, will irgendwie an den Ball. Doch die Kugel ist schon wieder weg, zurück bei Grimaldi. Die drei Adlerträger sind jetzt circa 25 Meter vor dem Bremer Tor und sehen sich vier Bremern gegenüber, die noch eingreifen könnten.
Grimaldi verzögert. Er hat im Grunde die freie Auswahll. Die Gedanken der Bremer müssen jetzt rasen: „Steckt er auf Heinrich durch? Schießt er selbst? Da vorne ist Rizzi frei!“ Das Ergebnis ist fast schon zwangsläufig: Kein Bremer greift Grimaldi entscheidend an. Der legt den Ball nach rechts auf Rizzi. Vor fünf Sekunden war der Ball noch 40 Meter vom Gehäuse entfernt, jetzt rollt er durch den Bremer Strafraum. Es sind nur noch 14 Meter bis zum Tor. Rizzi sucht sich die Ecke aus und schießt flach in die linke Ecke. Keine Chance für Oelschlägel! Die herrlichste Preußen-Kombination des Tages macht den Deckel auf dieses Spiel.
Wer war das?
Wieder Jubel der Preußenfans. Für manche – mich eingeschlossen – ging das gerade viel zu schnell. „Wer hat’s gemacht?“, brülle ich. „Rizzi!“, kommt es von irgendwo zurück. „Nää! Verarscht mich nicht!“, kommt von mir zur Antwort. Dann sehe ich, wie sich die Jubeltraube der Preußenspieler auf dem Platz auflöst. Der Platz ganz unten ist bei so einer feierlichen Rudelbildung immer für den Torschützen reserviert. Und tatsächlich: Als Letzter steht Rizzi auf. Er hat es schon wieder getan!
Kurz darauf ist Schluss. Preußen Münster siegt nach 0:2-Rückstand noch und Michele Rizzi wird für ein paar Tage im gleichen Atemzug mit Robert Lewandowski genannt. Der hatte es nach einer Einwechslung sogar mal auf fünf Tore gebracht. Preußen hat aus drei Spielen neun Punkte geholt und einen großen Schritt aus dem Abstiegskampf getan. Trainer Antwerpen gibt den Spielern zwei Tage frei.
Harte Landung
Eine Woche später gibt es eine harte Landung für alle Preußen. In Magdeburg verliert das Team nicht nur nach eigener Führung, sondern verliert auch Danilo Wiebe, der sich schwer verletzt und erst Anfang 2019 überhaupt wieder mit der Mannschaft trainieren kann. Aber aus heutiger Sicht haben wir vieles gewonnen. Auch dank dieses überzeugenden Sieges blieb Preußen ein weiteres Jahr in Liga drei.
Und wir Fans? Wir haben eine Geschichte gewonnen, die man sich immer wieder erzählen kann. Eine von diesen „Weißt-du-noch-Geschichten“. Eine von den Geschichten, die man immer dann gebrauchen kann, wenn das Drumherum gerade nicht so pralle ist. In diesem Sinne: